❬ Die letzte Fahrt der Lady

von Frederik Greve

Wie ein schlafender Riese lag sie da. Still, friedlich, fast wirkte sie vergessen. Doch dieser Schein trügte. In ihrem Inneren brannte ein Feuer, ein Verlangen über die Ebenen zu rasen und alles hinter sich zu lassen. Mit einer Zärtlichkeit, die dem gewaltigen Stahlmonstrum kaum gerecht werden wollte, strich Bill, der Lokomotivführer, über die Radscheibe des großen Schwungrades, das fast so groß war wie er selbst und mehrere zig Kilo schwerer. Er glaubte, in der Berührung ihre Vorfreude zu spüren, endlich wieder ihre ganze Kraft gegen die Welt zu drücken. Dafür liebte er seine „kleine Lady“, wie er sie immer wieder gerne nannte, über alles. Routiniert klopfte er gegen die Räder wie zu Beginn jeder Fahrt und lauschte dem seichten Klingen, das sie hinterließen. Es war fein und gleichmäßig, so wie es sein sollte, ohne Hinweis auf Schwächen oder Risse.

Während er seine Inspektion fortsetzte, bemerkte er hier und da die kleinen Macken und Teile, die sie im Verlauf der Zeit ausgetauscht hatten. Wie auch bei ihm selbst waren die Jahre schwerer Arbeit an ihr nicht spurlos vorübergezogen. Aber sie war noch immer gut in Schuss. Alles lief und hielt, wie es sollte. Er hätte ihr ruhigen Gewissens noch Jahre gegeben, aber er traf diese Entscheidungen nicht. Dies war die letzte Fahrt seiner kleinen Lady. Eine letzte Fahrt zu dem Ort, an dem sie verschrottet werden sollte, um Platz für eine dieser neuen Dieselbahnen zu machen, die nun überall über die Gleise fegten. Als er zum Führerhaus kam, streckte ihm der alte Will seine knochige Hand entgegen und zog ihn, als er einschlug, hoch in die Kabine. Will glänzte bereits vor Schweiß und war etwas außer Atem, doch da war noch immer dieses breite, fast schon unschuldige Grinsen in seinem Gesicht, das Bill bei seinem alten Freund über die Jahre so ins Herz geschlossen hatte. Zugegeben, früher waren noch Zähne darin gewesen und es waren einige neue Falten hinzu gekommen, aber da war noch immer diese ehrliche Direktheit, die so viele Menschen mit den Jahren verloren. „Morjen Bill, ifft allef in Ordnung, wie immer.“ Bill schmunzelte. Wenn Will diese Frage stellte, klang sie immer mehr wie eine Feststellung. Für ihn war die Lady immer ein Ebenbild der Perfektion gewesen. „Morgen Will, alles in Ordnung, wie immer“, bestätigte Bill. Er war froh, seinen alten Freund heute bei sich zu haben. Will war die längste Zeit über sein Hauptheizer gewesen, aber schon vor einigen Jahren in den lange verdienten Ruhestand gegangen. Als er aber erfuhr, dass die Zeit seiner Lady enden würde, hatte er nicht Ruhe gegeben und trotz seines Alters darauf bestanden, bei der letzten Fahrt als Heizer dabei zu sein. Er schaffte es mit seinem Drängen, die Unternehmensführung so sehr zu zermürben, dass sie schließlich nachgaben und Bill die Entscheidung überließen. Er hätte sich keinen besseren Begleiter für diese Fahrt wünschen können.

Bild von Brücke von Heidelberg

„Die Lady hatte wieder einen gefunden Appetit heute, die Jungf wiffen einfach nicht, wie man fie richtig füttert, da muffte ich nochmal kräftig einheifem, aber nun find wir beide warm und ef kann lofgehen.“

Bill warf einen Blick auf die vielen ihm so vertrauten Prüfzähler und Ventile. Temperatur, Druck, alles hatte seine Richtigkeit. Er begann die Ventile zu öffnen und spürte, wie Dampf in die Kolben gedrückt wurde. Seine Lady erwachte und zeigte ihm mit ihren ungeduldigen Vibrationen, dass sie endlich wieder arbeiten wollte. Er legte die Hand auf den Bremshebel und spürte, wie sich seine Kehle zuschnürte. Dies war die letzte Fahrt. Irgendwann würde er diesen Hebel lösen müssen, aber wenn er noch etwas wartete, konnte er das Unvermeidliche vielleicht noch etwas hinaus zögern. Doch sofort riss ihn ein schriller, lauter Pfiff zurück in die Wirklichkeit. Will hatte die eine Hand am Hahn der Dampfpfeife und legte den anderen brüderlich auf Bills Schulter. Ein weiterer kürzerer Pfiff ertönte, als er erneut am Hebel zog. „Hörft du nicht, wie ungeduldig fie wird? Feine Damen läfft man nicht warten.“ Wieder grinste er breit. Doch Bill konnte sehen, dass Wills Augen feuchter geworden waren. Er zwang sich dazu, das Lächeln zu erwidern und löste die Bremse.

Mit einem freudigen Schnauben und einem kräftigen Ruck setzte sich seine Lady in Bewegung. Sie wusste, was sie erwartete, doch das würde sie nicht davon abhalten, auf ihr Ziel mit Geschwindigkeit und Kraft zuzujagen. Sie hatte diese besondere Art von Würde. Auf ihrer letzten Fahrt würde sie nicht zu spät kommen. Mit kräftigen Zügen stieß sie den Dampf durch ihre Kolben und während sich ihre Atmung erhöhte und sie Fahrt aufnahm, wurden ihre Bewegungen immer ruhiger und gleichmäßiger. Langsam rollte sie aus dem Bahnhofsgebäude, in dem sie eben noch geruht hatte, und reckte ihren Schlot in den trüben Nachthimmel.

Ein weiterer schriller Pfiff riss Bill erneut aus seinen Gedanken. Wills Hand war noch immer am Hebel der Pfeife und mit ein wenig Ärger wurde sich Bill wieder seiner Umgebung und der Uhrzeit bewusst. „Will, denke daran, dass es vier Uhr in der Früh ist. Vielleicht möchten die Leute hier noch schlafen“, mahnte er streng. Eigentlich sollte ein Heizer diesen Hebel ohnehin nicht bedienen. „Ach waf!“ Will wirkte ebenfalls etwas verärgert. „Die Leute hier haben unferer Lady fo viel fu verdanken. Daf muff doch reichen für einen letften Falut.“ Erneut lies er die Pfeife ertönen. Bill schüttelte den Kopf. „Der Druck fällt Will, wenn du so weiterpfeifst, werden wir gar nicht ankommen und was wird unsere Lady dann von uns denken?“ Will nahm die Hand vom Pfeifenhebel und griff nach seiner Schaufel und öffnete die Feuerbüchse.

„Daf wird nicht paffieren, folange ich noch einen Pulf in meinen Händen habe.“ Er begann eifrig zu schaufeln. Etwas langsamer, als er es früher getan hatte, aber immer noch mit Energie und Routine. Sie drei waren wirklich immer ein gutes Team gewesen. Erneut schrillte der energische Pfiff der Lady über die Gleise. Aber dieses Mal zog Bill selbst den Hebel. Er musste Will zustimmen. Ihre Lady hatte zumindest so viel verdient.

Wild pfeifend nahmen sie nun Fahrt auf und Bill konnte sehen, wie einige der Leute, die auch schon so früh auf den Beinen sein mussten, stehenblieben und sie vorbeiziehen sahen. Einige winkten sogar und Bill fragte sich, ob sie vielleicht wussten, was für eine Fahrt dies war.

Bald schon hatten sie die Stadt hinter sich gelassen und jagten über die Felder. Bill spürte den Ärger der Lady, heute keine Wagen zu ziehen, aber auch ihren Wunsch, nun einmal zu sehen, wie schnell sie wirklich sein konnte, und er wollte ihr diesen Spaß nicht verderben.

Bald rauschten sie so schnell über die Gleise, dass die Bäume in der aufgehenden Sonne nur noch unscharfe Schemen waren. Wäre Bill mit der Strecke nicht so gut vertraut gewesen, hätte er wohl nicht einmal mehr rechtzeitig die Signale für die Schranken geben können.

Will war immer wieder tapfer am schaufeln, doch er schnaufte noch mehr als ihre Lady und hatte Schwierigkeiten, mit ihrem Hunger mitzuhalten. Er war eben alt geworden und wie die Lokomotive heute wurde er damals auch durch ein jüngeres, schnelleres Modell ersetzt. Bill griff nach der anderen Schaufel und bemerkte sofort den protestierenden Blick von Will. „Einmal möchte ich unserer Lady auch einheizen dürfen, Will. Gönn es mir, ich weiß, dass du genauso auf den Druck achten kannst wie ich.“ Er erwartete eigentlich eine Gegenwehr, doch Will schien mit seiner Bitte einverstanden zu sein. Für den Rest der Fahrt wechselten sie sich ab zu schaufeln und zu regulieren und noch nie waren sie ein so eingespieltes Team gewesen wie heute.

Erst als sie in den letzten Teil der Strecke kamen, wo die Kurven enger wurden und das Netz von mehreren Zügen genutzt wurde, ließen sie ihre Lady wieder etwas zur Ruhe kommen. Zuerst wirkte sie etwas unzufrieden, sie war noch immer so feurig und wild wie am ersten Tag, doch mittlerweile kannte er auch ihre ruhigen Seiten und wusste sie zu bändigen.

Bald schnaubte sie voller Zufriedenheit und Entspannung, während die beiden Männer sich an die Wände lehnten und in einer kleinen Pause einen Kuchen teilten, den Bill extra zu diesem Anlass gekauft hatte. Drei Stücke. Eines für Will, eines für ihn und eines für die Lady, das schnell in ihrer Feuerbüchse verschwand.

Sie näherten sich dem letzten Hügel vor dem Bahnhof und sahen aus den Fenstern. Es würde keine weitere Fahrt geben, es gab daher auch keinen Grund mehr, weiter zu schaufeln.

Erneut spürte Bill eine tiefe Wehmut. Er hatte noch zwei Jahre bis zu seiner Pension. Aber dies war seine Lady, die einzige für ihn. Gleich Morgen würde er um eine Versetzung bitten. Dies sollte auch seine letzte Fahrt in einem Führerhaus gewesen sein. Die letzte Fahrt mit seinem Team, mit seiner Lady. Hier wird für uns alle Endstation sein.

Dann rollte der Zug mit einem letzten schrillen Salut in den Bahnhof ein.

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